Von Dr. Kyryl Savin und Fabian Staben
„Blockade wie üblich“ - so könnte man die zurückliegende Woche im politischen Kiew beschreiben. Das Land befindet sich im Wahlkampf, das Parlament ist lahmgelegt, die Wirtschaft steckt in einer tiefen Rezession und außenpolitisch gibt es starken Druck aus Russland. Eigentlich kann sich ein Staat so viel Handlungsunfähigkeit nicht leisten, und schon gar nicht gleichzeitig. Dies ist genau der Grund für die derzeitige Schwäche der Ukraine. Wie sich das Land aus dieser schwierigen Situation befreien kann, wird sich bis Anfang nächsten Jahres zeigen, wenn eine neue Präsidentin oder ein neuer Präsident gewählt, und damit die außenpolitische Orientierung für die nächsten Jahre feststeht und die Wirtschaftskrise ihren Zenit überschritten hat. Bis zu den Wahlen im Januar hat es jedoch die politische Elite in der Hand, ein Minimum an Regierungshandeln zu ermöglichen. Doch danach sieht es zurzeit nicht aus.
Parlamentsblockade hält an
In der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, hält die Blockade an, ordentliche Sitzungen finden nicht statt. Alle Fraktionen nutzen die Situation für Attacken gegen die politischen Gegner und lassen das Parlament so endgültig zur reinen Wahlkampfbühne werden. Die Partei der Regionen (PdR), größte Fraktion im Parlament, muss sich mit den Forderungen ihrer Klientel auseinandersetzen und sich den anderen Parteien gegenüber für ihre Blockadehaltung rechtfertigen. Neu ist, dass Block Julia Tymoschenko (BJuT) sich den Forderungen der PdR inhaltlich auseinandersetzt. Die Partei Tymoschenkos schlägt vor, angesichts leerer Staatskassen die geforderte Erhöhung der Sozialleistungen über höhere Steuern auf Alkohol und Tabak zu finanzieren, was von der PdR wiederum mit dem Hinweis abgelehnt wird, es sei genug Geld vorhanden. Das BJuT versucht sich so als verantwortungsbewusste Partei zu präsentieren, die die Sorgen der Bürger ernst nimmt, höhere Leistungen jedoch nicht durch inflationsförderndes „deficit spending“ finanziert. Allerdings ist die Erhöhung der genannten Steuern wenig populär, da bereits im Frühjahr die Abgaben auf Alkohol und Tabak angehoben wurden. Die von beiden Seiten vorgeschlagenen Maßnahmen sind inhaltlich weder besonders genau noch sind sie besonders ernst zu nehmen. Es handelt sich um typische Wahlkampfversprechen.
Für den Umgang mit der andauernden Blockade gibt es verschiedene Vorschläge. Der Präsident der Werchowna Rada hat gedroht, die Zahlung der Abgeordnetendiäten auszusetzen. Für den 9. September hatte er einen Schlichtungsrat einberufen, zu dem jedoch die größten Fraktionen PdR und BJuT nicht erschienen - mit der Begründung, sie befänden sich in Verhandlungen. Ist dies ein Anzeichen für die faktische Umsetzung der im Juli getroffenen Vereinbarung einer Koalition zwischen den Parteien Janukowytschs und Tymoschenkos? Eine solche Große Koalition wäre in der heißen Phase des Wahlkampfs sicher nicht ansatzweise stabil, weshalb das BJuT über den stellvertretenden Rada-Präsidenten den Vorschlag verkünden ließ, die Arbeit des Parlaments bis zur Wahl im Januar auszusetzen, während die Abgeordneten sich ohne Diätenzahlungen in den Wahlkreisbüros den Belangen der Bürgerinnen und Bürger widmen sollten. Bis wann und in welcher Form die Blockade weitergeht, ist zurzeit offen.
Ein Hauch von Stabilität scheint immerhin dadurch gegeben, dass der Wahltermin - der 17. Januar 2010 - feststeht. Rada-Präsident Lytwyn hat am 9. September verfassungsgemäß das Gesetz zur Festlegung des Wahltermins unterschrieben, nachdem es zuvor zwar vom Parlament verabschiedet, nicht jedoch von Präsident Juschtschenko unterzeichnet worden war. Der Termin ist nun gesetzlich verankert und wird von den wichtigsten politischen Kräften, mit Ausnahme Juschtschenkos, nicht mehr in Frage gestellt. Viktor Juschtschenko hofft weiterhin auf eine Selbstauflösung des Parlaments noch vor den Präsidentschaftswahlen, da ihm dieses Recht in den sechs Monaten vor der Wahl laut Verfassung nicht mehr zusteht. An Parlamentswahlen vor den Präsidentschaftswahlen ist keine der führenden politischen Kräfte interessiert.
Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise
Die politische Handlungsunfähigkeit wirkt vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise besonders dramatisch. Der Posten des Finanzministers ist seit Monaten unbesetzt, ebenso vier weitere Ministerstellen, darunter das Verteidigungsressort. Als Reaktion auf die äußerst ungünstige Entwicklung der nationalen Währung Hryvna hat Präsident Juschtschenko dem Präsidenten der ukrainischen Zentralbank, Wolodymyr Stelmach, mit der vorzeitigen Absetzung gedroht. Er kritisierte die expansive Haushaltspolitik des (von seiner Konkurrentin Tymoschenko geführten) Kabinetts. Die Regierung habe die Zentralbank gezwungen, in ihrem Sinne zu handeln und sei somit für die Währungsabwertung verantwortlich.
Die Hryvna (UAH) steht seit Beginn der Krise stark unter Druck. Auf eine Phase schneller Abwertung gegenüber Dollar und Euro im Herbst 2008 folgte ein Zeitraum relativer Stabilität im Frühsommer 2009. Seit gut zwei Monaten hat sich die Abwertung wieder auf durchschnittlich gut 165 Prozent beschleunigt. Für die ukrainische Bevölkerung kommt dies einer extremen Inflation gleich, da in der Praxis viele Kredite, Mieten und größere Konsumgegenstände direkt in Dollar oder Euro bezahlt werden. In der Folge versuchen viele Ukrainerinnen und Ukrainer, ihre Hryvna-Gehälter und Gespartes in harte Fremdwährungen umzutauschen, was jedoch den Druck auf die einheimische Währung weiter erhöht. Bis Jahresende sagen Analysten einen Verfall des Wechselkurses von zurzeit 8,60 UAH pro Dollar auf gut 10 UAH pro Dollar voraus; die Stabilisierung der vergangenen Tage wird als vorübergehend betrachtet. Gründe sind die angespannte Haushaltssituation des ukrainischen Staats, die expansive Geldpolitik und die schwindenden Devisenreserven infolge der zurückgegangenen Exporte. Die Ukraine exportiert hauptsächliche Metallurgie- und Chemieprodukte, deren Nachfrage im Zuge der Krise stark gesunken ist.
Ukrainisch-russische Beziehungen
Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise ist auch die ukrainische Nachfrage nach russischem Gas gesunken. Die seit dem Ende des Gas-Konflikts zwischen der Ukraine und Russland im Januar 2009 vertraglich vorgesehene Mindestabnahme von 40 Milliarden Kubikmetern Gas für das laufende Jahr wird deshalb mit Sicherheit unterschritten. Schätzungen gehen bis Ende 2009 von einem voraussichtlichen Verbrauch in Höhe von 32 Milliarden Kubikmetern aus. Über die vorgesehenen Strafzahlungen für die Nichterfüllung des Vertrags sprach Premierministerin Julia Tymoschenko mit ihrem russischen Amtskollegen Wladimir Putin am Rande der Gedenkfeier zum Beginn des Zweiten Weltkrieges in Danzig am 1. September. Öffentlich verkündete Putin, Russland fordere die eigentlich rechtmäßigen Strafzahlungen nicht ein, da es Verständnis für die schwierige wirtschaftliche Lage der Ukraine habe.
Vertragspartner des ukrainischen Staatskonzerns Naftogaz ist jedoch nicht die russische Regierung, sondern Gazprom. Um sich die Worte Putins von dem Konzern schriftlich bestätigen zu lassen, ist diese Woche eine ukrainische Delegation in Moskau. Gazprom ist aber offenbar nicht zu einer rechtsverbindlichen Zusage bereit. Zusätzlich stehen Verhandlungen über einen Anhang zum im Januar geschlossenen Vertrag an, in dem die Transitgebühren und das Volumen der Lieferungen für 2010 geregelt werden.
Warum Putin in der angespannten Situation zwischen den beiden Ländern ungewohnt sanfte Töne anschlägt, ist umstritten. Manche glauben, er setze auf Zuckerbrot, Präsident Dmitrij Medwedew auf die Peitsche. Andere trauen seinen Aussagen grundsätzlich nicht und erwarten einen harten Kurs sobald der Winter beginnt, und der ukrainische Wahlkampf seinen Höhepunkt erreicht. Darüber hinaus gibt es Vermutungen, Tymoschenko könnte mit Putin geheime Absprachen für den Fall eines Wahlsieges getroffen haben. Dass der Kreml strategisch nicht nur auf Janukowytsch, sondern auch auf die ebenso aussichtsreiche und Russland gegenüber ebenfalls durchaus nicht ablehnend eingestellte Julia Tymoschenko setzt, ist keine ganz neue These. Tymoschenko selbst vermeidet es geschickt, öffentlich für oder gegen eine Annäherung an Russland Stellung zu beziehen um für alle wählbar zu bleiben.
Dr. Kyryl Savin leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew, Fabian Staben ist dort Praktikant.
Dossier
Die Ukraine auf dem Weg zur Demokratie
Seit 1991 ist die Ukraine unabhängig. Trotz Reformen hat die Demokratie in der Ukraine immer noch große Defizite. Die Orangene Revolution 2004 hat den Prozess der Demokratisierung beschleunigt, doch ist die Demokratie im Lande weiter instabil und die Zivilgesellschaft zu schwach, um Politiker und Politikerinnen kontrollieren zu können. Ein Schritt zurück zur Autokratie ist bei der andauernden politischen und wirtschaftlichen Krise nicht ausgeschlossen. Das Dossier begleitet die aktuellen Entwicklungen mit Artikeln und Hintergrundberichten.- Dossier: Die Ukraine auf dem Weg zur Demokratie von Dr. Kyryl Savin - Feedback an: savin@boell.org.ua